Die meisten Leute, die ihre Vorführungen besuchten, mußten offen zugeben, daß sie nie herausfanden, wie sie es gemacht hatte. Es war, als könnte Lara Mornay sich nach Belieben materialisieren und wieder dematerialisieren, als könnte sie mühelos beliebig viele Lagen Segeltuch, Gummi, Holz, ja sogar Eisen durchdringen ohne dazu die üblichen Tricks wie verborgene Schlüssel und ähnliches zu gebrauchen. Sie selbst pflegte zu behaupten ihr Geheimnis sei einfach eine phänomenale Körperbeherrschung, die sie von Kind auf gelernt hatte, aber wer einmal ihre große Nummer gesehen hatte, konnte nicht anders als an dieser Erklärung zu zweifeln.
Bei dieser Nummer betrat Lara nur mit einem leichten Morgenmantel bekleidet die Bühne, auf der die Fesselung stattfand. Dort ließ sie den Mantel fallen und präsentierte nackt ihren kleinen, überaus muskulösen, ja beinahe androgynen Körper, der sorgfältig gepflegt und mit Öl zum Glänzen gebracht war, denn Lara war eine eitle Frau. Sie drehte und wendete sich nach allen Seiten und gestattete dann zwei Frauen aus dem erlesenen Publikum ihre Körperöffnungen nach versteckten Dietrichen und anderen Hilfsmitteln zu durchsuchen. Man fand nie etwas.
Die Fesselung selbst konnte nach dem Belieben des Publikums stattfinden. Wie Lara lachend behauptete, hätte es ihr nichts ausgemacht, wenn man sie von Kopf bis Fuß in Eisen geschmiedet hätte, daher war es ihr auch gleichgültig welche Mittel der Fesselung ihre Gegner anwandten. Nun trat Lara nie vor einem x-beliebigen Publikum oder gar auf Jahrmärkten auf, sondern immer nur vor ranghohen Wissenschaftlern oder Leuten der Gesellschaft, denen aber – Bankiers, Prinzen, berühmte Schauspielerinnen und andere Prominenz – ließ sie völlig freie Hand.
An einem Abend nun, an dem sie ihre erstaunliche Kunst zur Schau stellte, bat ein skeptischer Wissenschaftler sie auf noch nie dagewesene Weise mit eigenen Vorrichtungen fesseln zu dürfen. Das wurde ihm ohne Vorbehalte gewährt. Er – ein noch jüngerer, bleicher, spitzbärtiger Mann mit einer Zwickerbrille – machte eine knappe Verbeugung vor Madame Lara und begann dann ihr die zahlreichen Fesselungen anzulegen, die er auf einem Tisch zu allgemeinen Besichtigung ausgebreitet hatte.
Zuerst fesselte er ihr kräftigen Fußgelenke – die sie ihm freundlich lächelnd darbot – mit konventionellen Lederschellen, breiten Lederriemen, die durch zwei Ringe miteinander verbunden waren und mit Riemchen geschlossen wurden. Danach umwickelte er Madame Laras Beine vom Knöchel bis zur halben Wade mit Baumwollstreifen um Verletzungen zu vermeiden. über diese Streifen zog er eine lange Kette, die mehrfach um jedes Bein gewickelt und nach jeder Windung mit stählernen Karabinerhaken befestigt wurde. Die Beine, die nun durch die Ketten an den Knöcheln eng zusammengepresst wurde, steckte er sodann in einen engen ledernen Sack, der bis zum Knie reichte.
Dieser Sack wurde mit einem Riemen und einer Schnalle geschlossen und mit mehreren ähnlichen Riemen noch zusätzlich gesichert. Madame Lara saß während dieser Prozedur auf einem Hocker und beobachtete aus ihren großen schwarzen Augen neugierig, was mit ihr geschah.
Danach verbeugte sich der Wissenschaftler von neuem – gleichsam als wollte er sich für die Strenge entschuldigen, die er ihr antat – und zog ihre Hände auf dem Rücken zusammen. Dort fesselte er sie an den Handgelenken mit handelsüblichen Polizeihandschellen, danach noch einmal an den Ellbogen mit einer Vorrichtung, die er selbst erfunden hatte und die einer großen Brille oder Masche aus schwarzem Leder ähnelte. Diese Vorrichtung wurde über beide Ellbogen geschoben und dann mit Schnallen so fest zugezogen, dass sie stramm am Fleisch anlag, ja ein wenig hineinschnitt und die beiden Ellbogen unverrückbar nebeneinander fixierte. Diese Fixierung hatte den hübschen Nebeneffekt, dass Laras strammer Busen durch das Zurückdrehen der Schulterkugeln kräftig herausgedrückt wurde, so dass es mehr als einen Mann im Publikum gelüstet hätte ihn zu berühren – was aber natürlich verboten war.
Als nächstes wurden diese Fesseln mit jeweils drei voneinander getrennten Ketten hinten und drei vorne verbunden, wobei jede Kette durch ein Schloss mit geheimem Mechanismus gesichert wurde. Lara musste also, wenn sie sich befreien wollte, sechs verschiedene Schlösser öffnen, deren Mechanismus nur dem Erfinder – eben jenem Wissenschaftler – und dem Hersteller, einem Kunstschlosser, bekannt war. Durch diese Ketten wurden – wobei sie die erste Garnitur abwechselnd ober- und unterhalb kreuzten – drei weitere Ketten quer zu den Beinen gezogen und ihrerseits mit geheimen Schlössern gesichert, sodass Madame Laras in den schwarzen Ledersack gehüllte Beine nun in einem eisernen Geflecht feststeckten, das sich eng um ihre muskulösen Waden und beinahe männlichen Schenkel spannte. Danach – wir wollen die Beschreibung der Prozedur abkürzen um den Leser nicht zu langweilen – wurde der Oberkörper auf dieselbe Weise gesichert, wobei wiederum die gefesselten Hände in einen schwarzen Ledersack mit Riemenzug gesteckt und dann mit Kreuz- und Querketten überspannt wurden.
Nachdem der Wissenschaftler noch einmal die formelle Zusicherung eingeholt hatte, dass jede Art von Fesselung erlaubt war, ließ er von seinem Assistenten einen mannshohen fahrbaren Galgen hereinrollen. An dessen Arm befand sich ein kräftiger Haken. An diesem Haken wurde Madame Lare auf raffinierte Weise hängend befestigt, indem der Prüfer ihr ein Kopfgeschirr anlegte, das den Kopf und Hals – von einer Atemöffnung abgesehen – völlig umschloss, sodaß sie während eines beträchtlichen Teiles ihrer Befreiungsversuche blind und taub sein würde. Madame Laras erfreulicher und nicht unerotischer Anblick hatte sich mittlerweile in den eines grotesken schwarz-silbernen Popanz verwandelt, der leise pendelnd an dem Gestell hing und sich, da er am Schädeldach hing, nach allen Seiten drehen und wenden ließ. Der Prüfer, der nun völlig freie Hand beim Anlegen weiterer Restriktionen hatte, überzog die reglos gefesselte, gesichts- und gehörlose Lara von den Fußspitzen anfangend mit einem strumpfartigen schwarzen Gewebe, das zwar elastisch, aber sehr stramm war; es saß so eng, dass die einzelnen Glieder der Ketten durch seine Oberfläche sichtbar wurden. Dieser Körperstrumpf hatte ebenfalls in Höhe von Nase und Mund ein Atemloch, eine Notwendigkeit, da er bis über den Scheitel gezogen und dort mit einer Zugschnur befestigt wurde. über den Strumpf wurde von dem Prüfer und seinem Assistenten eine beträchtliche Länge gelbweißes Mumienband gewickelt, das in kurzen Abständen immer wieder mit einigen Stichen festgenäht und dann weitergewickelt wurde und zwar so, dass es den gesamten Körper der Entfesselungskünstlerin von den Fußspitzen bis zum Hals umschloss.
Der Assistent brachte mit Hilfe einiger Männer nun fünf schwarze, türähnliche Holzbretter von beträchtlicher Dicke herein, die an den Kanten mit Scharnieren versehen waren. Diese wurden auf der Bodenplatte des Galgens montiert, so dass ein schwarzer Schrank entstand. Bis die Türe geschlossen wurde, konnte man die unheimliche Puppe, in die Madame Lara sich verwandelt hatte, an ihrem Haken pendeln und sich einmal dahin, einmal dorthin drehen sehen. Dann fiel die Türe zu, die drei daran befindlichen Kunstschlösser wurden von dem Professor und seinem Assistenten versperrt. Zuletzt zog man noch eine starke Kette um den Kasten, die an der Vorderseite mit einem Schloss fixiert wurde.
Dann – das war die einzige Bedingung, die Lara jedesmal stellte – wurde ein vierteiliger Paravent mit schwarzer Bespannung hereingeschoben und rund um die Künstlerin, besser gesagt um den Schrank, aufgestellt. Um jedoch sicherzugehen daß niemand heimlich hineinschlüpfen und den Schrank im Schutz der Paravents von außen öffnen konnte, bildeten der Prüfer, sein Assistent und eine Reihe angesehener Persönlichkeiten aus dem Publikum eine Menschenkette rund um den Schrank, wobei sie einander fest an den Händen hielten.
Danach wurden, Laras Wunsch gehorchend, die Lichter im Saal kleingedreht, so dass ein schwaches, schwefliges Halbdunkel herrschte. Atemlos wartete das Publikum. Man lauschte auf jedes noch so schwache Geräusch, das hinter den Paravents herausdringen mochte. Würde sie das Unmögliche schaffen? Oder würde sie, so grausam eingeengt und fest gehalten, in dem Schrank ersticken? Es war ausgemacht, dass niemand ihr zu Hilfe kommen durfte; erst wenn vierundzwanzig Stunden vergangen wären ohne dass es Lara gelungen war sich zu befreien würde man den Schrank öffnen – und dann gewiss nur noch ihre Leiche in dem luftlosen Behältnis vorfinden!
Doch wieder geschah es: Man hörte erst dumpfe Geräusche wie hinter einer Holzwand hervor, dann ein Knacken und Rasseln, und kaum eine Minute, nachdem sie so gnadenlos eingeschlossen worden war, trat Madame Lara, nackt und schön, zwischen den Paravents hervor und verbeugte sich mit ihren sphinxhaften Lächeln vor ihrem Publikum.