Schach(matt)

„Welcher Unterschied besteht zwischen Sadomasochisten und Schachspielern? – Sämtliche Beteiligten einer sadomasochistischen Partie schätzen das Schachmatt, bei Schachspielern tut dies allerdings nur der Sieger.“

Gerädert wache ich auf. Samstag. Ich blinzle zur Uhr. Kurz vor acht. Viel zu früh! Wann bin ich gestern Nacht endlich eingeschlafen? Um drei? Um vier? Und das, nachdem ich mich stundenlang im Bett herum gewälzt habe. Marco. Ich verziehe das Gesicht. Scheisse. Drehe mich auf die andere Seite, will noch ein wenig Schlaf nachholen… keine Chance. Ich bin todmüde, zugleich hellwach, muss aufs Klo, stehe auf, gehe ins Bad. Ein Blick in den Spiegel. Ein frustriertes Gesicht schaut mich an. Ich strecke meinem Spiegelbild die Zunge heraus: „Bääh!“ Es heitert mich nicht auf. Also tue ich, was notwendig ist, schnappe mir den Morgenmantel und tapse verschlafen in die Küche. Kaffee. Ich setze ihn auf, höre dem missmutigen Glucksen der Maschine zu, stehe da mit verschränkten Armen. Marco. Immer wieder Marco. Entnervt zünde ich mir eine Zigarette an. Noch vor dem Frühstück. Inhaliere tief, fühle den aufkommenden Schwindel. Marco hasst meine Raucherei. Ich grinse hämisch, die Zigarette schmeckt gleich ein bisschen besser. Der Kaffee ist durchgelaufen, ich giesse ihn ein, dazu Milch. Ein Schluck. Angeekelt stelle ich fest, dass ich den Zucker vergessen habe. Ich hole ihn nach; sitze da, trinke meinen Kaffee mit viel Milch und ebensoviel Zucker, und rauche eine Zigarette nach der anderen.

Marco.

Wir haben uns vor fünf Monaten auf dem Stammtisch kennen gelernt, den ich seit gut einem Jahr regelmässig besuche. Seit dem Zeitpunkt, als mir klar wurde, dass meine sexuellen Bedürfnisse ein wenig von der Norm abweichen. Ihm war das schon sein ganzes Leben lang bewusst. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr treibt er sich in der Szene herum. Seit über zehn Jahren. Ich bin neidisch auf ihn. Auf seine Erfahrungen, die er über die Jahre gesammelt hat. Auf die Tatsache, dass er sich unzählige Umwege erspart hat. Vor allem auf die daraus resultierende Selbstsicherheit, die er an den Tag legt, und die unerschütterlich zu sein scheint.

Er ist vor einem halben Jahr aus beruflichen Gründen in den Süden gezogen. Er kam zum Stammtisch, sah mich, umwarb mich hartnäckig, und ich liess mich darauf ein. Verdammt, ich war ausgehungert. Hungrig nach Zärtlichkeit, nach Schmerzen, nach Sex, nach einem Menschen an meiner Seite. Er verstand und versteht es perfekt, mit meinen Bedürfnissen – mit mir – zu spielen. Er hat mich manipuliert. Und verdammt noch mal, ich liess mich nur zu gern manipulieren. Seit vier Monaten lachen wir miteinander. Reden, spielen Schach, gehen ins Kino und Theater. Wir waren schon gemeinsam im Urlaub, und wir erforschten unsere Körper gegenseitig, mit Händen und Mündern. Er erforscht meinen zudem mit Gürteln und Peitschen, mit Fesseln und Klammern und anderen gemeinen Spielsachen. Inzwischen kennt er ihn, meinen Körper, in- und auswendig. Weiss genau, was er wie tun muss, um mir die gewünschten Reaktionen zu entlocken. Er weidet sich daran.

Kennt er meine Seele? Ich habe ihm so viel von mir erzählt… Er erzählt selten, wenig von sich. Kenne ich seine Seele? Manchmal sehe ich ihm in die Augen, und ich meine etwas Verborgenes zu entdecken. Etwas tief Schlummerndes. Und gleich darauf verschwindet der Eindruck. Vielleicht bilde ich es mir nur ein. Unterstelle ihm geheime Wünsche, die so nicht vorhanden sind. Aber warum hat er sich dann ausgerechnet mich ausgesucht? Schliesslich habe ich ihm gesagt, dass ich beide Seiten erleben möchte, und dass mich vor allem die aktive Seite reizt. Er ist gar nicht darauf eingegangen, nicht wirklich. Er meinte lakonisch: „Du bist nicht dominant, mein Schatz. Du wärst es nur gerne. Vielleicht probierst Du es auch eines Tages aus und tust so als ob.“ Und lachend fügte er hinzu: „Du wärst wahrscheinlich sogar ziemlich gut darin im So-Tun-Als-Ob. An Dir ist eine Schauspielerin verloren gegangen.“ Dann gab er mir ein Bussi auf die Wange, und tätschelte mir den Kopf.

Ich bestand auf einem Experiment. Er liess sich dazu herab. Ich fesselte seine Hände. Ich blickte in sein grinsendes Gesicht, und ich gab auf. Es war lächerlich und entlarvend. Er sprach mir meine dominanten, sexuellen Bedürfnisse einfach so ab.Zu Recht?

Wer weiß, vielleicht macht es ihn an, dass sich eine mehr oder minder vermeintlich dominante Frau von ihm bezwingen lässt. Diese Beziehung ist einfach nur ein entnervendes Machtspiel. Man nehme etwa unsere Gespräche über SM, über das, was geschehen kann, und das was nicht geschehen darf. Das, was Männer und Frauen für gewöhnlich miteinander tun, haben wir noch vor uns. Es miteinander treiben. Sein Schwanz war noch nicht an jenem Ort, zu dem es einen Schwanz für gewöhnlich hinzieht, auch nicht an den anderen, was das angeht.

Dazu habe ich Nein gesagt. Obwohl es genau das ist, wohin meine passiven Phantasien hinzielen, will ich nicht mit ihm vögeln, will ich nicht von ihm gevögelt werden. Ich gebe es ja zu. Es ist sehr wohl eine Provokation, ein Machtspiel meinerseits. Ich stelle im Vorfeld die Regel auf: „Behalt’ Deinen Schwanz bei Dir!“ Natürlich in der Hoffnung, dass er sich darüber hinwegsetzt, und ich mit einem phänomenalen Orgasmus belohnt werde. Wenn das geschehen würde, hätte ich die moralische Rechtschaffenheit auf meiner Seite, und könnte ihn zum Teufel jagen. Er hätte verloren, ich hätte gewonnen.

Und was war gestern Abend? Wir sassen in lauschiger Zweisamkeit beim Italiener, unterhielten uns über Gott und die Welt, bis er mich schliesslich aufs Thema ansprach und meinte: „Du willst nicht mit mir ficken, weder in einer Session noch ausserhalb. Das ist schade, sehr sogar. Denn ich will Dich. Nun, ich respektiere Deine Wünsche.“ Nach einer bedeutungsvollen Pause: „Ich habe nachgedacht, auch ich habe so meine Wünsche.“ Er lächelte – was war das für ein Lächeln? Selbstgefällig? Siegesgewiss? „Es fällt mir schwer zu warten. Sehr schwer. Aber ich kann warten. Wann immer Du den Wunsch nach einem guten Fick verspüren solltest, wirst Du etwas ebenso Schweres tun müssen.“ Ich sah ihn fragend an. Sein Lächeln wurde breiter: „Du wirst mich darum bitten.“ Pause. „Du wirst mich nackt auf Deinen Knien darum bitten. Du wirst mir die Füsse küssen. Du wirst mir deinen hübschen kleinen Arsch entgegen recken und betteln. Und vielleicht – nur vielleicht – werde ich Dich von hinten nehmen und Dich stossen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“ Sprach`s, legte fünfzig Euro auf den Tisch, gab mir einen flüchtigen Kuss und verschwand. Er hatte mich durchschaut. Und jetzt spielt er das Spiel nach seinen Regeln. Das hasse ich. Und ich hasse die Feuchtigkeit, die ich immer noch zwischen den Beinen spüre.

Ich schenke mir Kaffee nach. Milch, Zucker, und eine neue Zigarette. Er weiss, dass ich das Knien verabscheue. Er weiss, dass ich nicht devot bin. Schmerzgeil – Ja. Es ist die Mischung aus Zärtlichkeit und Grausamkeit, die mit meiner Wut, meiner Lust einher gehen. Er weiss, dass ich dieses Stück Fleisch eigentlich will. Und er weiss, dass ich will, dass er mich will, und mich nimmt. Und was tut er? Er führt mein Wollen ad absurdum.

Ein Blick auf die Küchenuhr. Es ist schon zehn. Er will nachher noch vorbei kommen, so gegen zwei. Das heißt: er könnte schon gegen eins hier auftauchen, oder auch erst um vier. Ich seufze. Er ist nicht sehr verlässlich. Nein, das stimmt nicht. Er ist verlässlich, aber lässt sich einfach nicht festlegen. Idiot. Meiner Meinung nach heisst „so gegen zwei“, frühestens fünf vor und spätestens zehn nach. Einmal habe ich fast drei geschlagene Stunden auf ihn gewartet. Wir hatten einen heftigen Streit. Ich lieferte ihm eine Szene, und er sass da, und genoss meine Wut regelrecht. Danach hat er mich ausgiebig geleckt, stundenlang. Ich lag gefesselt auf dem Bett, und er leckte und leckte. Ich war hinterher wochenlang wütend auf ihn. Bin es im Grunde genommen immer noch. Aber Szenen liefere ich ihm nicht mehr. Es bringt nichts. Höchstens multiple Orgasmen der grimmigen Sorte. Nicht sehr befriedigend für die Seele.

Er will mich also auf den Knien haben. Er hätte mich auch gerne dienend. Hat er einmal probiert, allerdings auch nur ein einziges Mal. Er löste meine Fesseln, und wies meine Hände an, sich mit seinem besten Freund zu befassen. Sein Glück, dass er nicht auf orale Dienste bestand… Die Session endete abrupt, in seinem schmerzverzerrten Gesicht war unterschwelliger Zorn zu erkennen. Ich habe tagelang nichts von ihm gehört. Dann kam er wieder: Scheinbar völlig gelassen. Wir sprachen darüber. Wenn auch nur kurz. Ich stellte klar, dass ich ihn ja im Vorfeld gewarnt hatte. Er sei selber Schuld. Er nickte. Die nächste Session war verdammt heftig. Er reagierte zwar sofort auf mein Safeword, ausgiebiger Trost folgte. Aber ich sah sie, die satte Zufriedenheit in seinen Blicken, die er zu verbergen suchte. Warum um Himmels Willen habe ich mich darauf eingelassen? Warum habe ich mir ausgerechnet ihn ausgesucht? Ich stiere vor mich hin, rühre und stochere mit dem Löffel in der Kaffeetasse.

Grübelnd lege ich den Kopf in den Nacken, betrachte die Küchendecke. Sie könnte einen neuen Anstrich vertragen. Unsere Beziehung auch. Ich habe genügend Gespür für ihn und für mich. Die Sache läuft ihrem unvermeidlichen Ende entgegen. Das hat er gestern Abend eingeläutet: Wenn ich in die Knie sinke, wird es vorbei sein. Er hätte gewonnen. Und dann? Dann sucht er sich die nächste, die er besiegen kann. Die Szene ist klein. Ich habe genügend Gerüchte über ihn gehört. Er ist ein Wanderer, ein Spieler. Manchmal bleibt er für einige Zeit bei einer Frau, aber er zieht über kurz oder lang weiter. Irgendwann fangen die Frauen wohl an, ihn zu langweilen. Seine Beziehungen haben nie die magische Grenze überschritten. Dort wo Verliebtheit aufhört, und Liebe beginnt. Wieso bin ich mir dessen nur so sicher? Kenne ich ihn inzwischen wirklich so gut?

Unschlüssig blicke ich auf meine Tasse, nehme einen Schluck, der Kaffee ist kalt. Egal. Kalter Kaffee. Schnee von gestern. Vielleicht sollte ich es einfach zu Ende bringen. Sobald es klingelt, den Türsummer drücken, die Türe anlehnen, mir den Morgenmantel vom Körper streifen, zu Boden sinken, ihn um diesen blöden Fick bitten, und – was immer er auch tut oder nicht – tschüss!

Seufzend stehe ich auf, mache das Radio an, nur Rauschen. Ich drehe den Regler. Eine bekannte Melodie, dann die Stimme des Sängers, Roland Kaiser. Ich schnaube, drehe weiter, aber der Refrain bleibt als Ohrwurm zurück: „Schachmatt durch die Dame im Spiel“. Ich schalte das Radio ab. Schachmatt? Dame? Betrachte ich das Beziehungsbrett von Marco und mir, zeigt sich im besten Fall ein Remis: Er nimmt sich nicht den Sex, ich bitte nicht darum. Barfuss stehe ich in der Küche, denke an verwaiste Schachbretter und an sein lakonisches Grinsen. Atme flach, verfolge die Schachassoziationen.

Wenn auf einem Schachbrett nur noch die Könige stehen, können sie sich zwar bewegen, einander umkreisen, aber nie zusammenkommen. Wie lange können wir beide noch so weitermachen? Werden unsere Bettumkreisungen mit der Zeit nicht langweilig werden? Wer ist derjenige, der diesen Zustand länger aushält? Ich fürchte, ich bin am Ende meiner Geduld angelangt. Weil ich mich nach dem vermeintlich echten Sex sehne? Weil ich tatsächlich gefickt werden will? Nein, will ich nicht. Jedenfalls nicht so, obwohl es vielleicht Grund genug wäre. Weil ich verlieren will? Nein, ich will verdammt noch mal gewinnen. Aber welcher Zug bleibt mir noch, nachdem er die Falle erkannt, und die Stellung komplett verschoben hat? Überhaupt, wie viele Figuren sind denn noch im Spiel? Wer hat welchen Raum-, welchen Zeitvorsprung? Wer befindet sich im Zugzwang? Er hat seinen Turm in Stellung gebracht. Der steht da, wie ein Fels in der Brandung, und schützt seinen König. Was habe ich?

Den Wunsch, die Sache zu Ende zu bringen. Und zwar schnell. Ich habe die Lust an seinem Spiel verloren. Vor meinem geistigen Auge erscheint sein imaginärer Turm. Das ganze Spielfeld breitet sich vor mir aus. Oh, meine Dame ist schon längst gefallen. Er hatte sie mir genommen, mich abgelenkt, dafür gesorgt, dass ich nicht auf sie aufpasse. Aber vielleicht… vielleicht kann ich sie noch zurückgewinnen. Ich schiele auf die beiden Bauern in der Ecke, und auf meinen König, der sie beschützt. Frage mich, welchen der Bauern ich opfern muss, und was ich dafür wohl bekommen kann.

Meine Zunge fährt über die Lippen, befeuchtet sie. Sein Spiel? Meine Liebe? Mein passiver Appetit ist mittlerweile reichlich gestillt, aber meine Liebe bleibt hungrig. Sie begann, als der Wunsch aufkam, ihn zu packen, ihn am tiefsten Ort seiner Seele zu erreichen. Wird das reichen?

Sein Turm greift mich nicht an. Er beschützt nur den König. Ich denke an seine manipulativen Eröffnungszüge. Seine Haltung, die von vornherein besagte, ich könne es nicht. Sein Mittelspiel, in dem er es geschafft hatte, unzählige meiner Figuren – mich – zu schlagen. Aber der Preis war hoch. Er steht ohne Bauern da, seinen Läufern ist schon längst die Puste ausgegangen, und er ist in den vergangenen Jahren zu viel herum gesprungen. Und seine Stellung? Seine Stellung ist bei Licht betrachtet miserabel. Man kann kaum von einer sprechen. Er bezieht ja nicht Stellung. Ich lächele. Ein König und zwei Bauern, gegen seinen Turm und den einsamen König in der Ecke. Ich zähle, ich rechne. Es ist zu schaffen, und ich bin mir verdammt sicher, dass er das zwar nicht weiss, aber heimlich vielleicht ahnt.

Ich meine, schliesslich ist er bei mir. Hat sich ebenso für mich entschieden, wie ich für ihn. Das Spiel ist erst aus, wenn es vorbei ist. Noch ist es nicht soweit. Es könnte sein, dass er sich mich ausgesucht hat, weil er sich packen lassen will, weil er deutlich spürt, dass ich es könnte. Oh, er wehrt sich dagegen, er wehrt sich mit Händen und Füssen. Er wird das Schlachtfeld nicht freiwillig räumen. Er spielt sein Spiel mit hohem Einsatz, und das seit Jahren. Obwohl es so aussieht, als hätte er immer als Sieger das Feld verlassen, ist er derjenige, der immer wieder von Neuem verliert. Derjenige, der allein zurück bleibt. Nun! Ich kann dafür sorgen, dass er es diesmal merkt, und seinen König selbst umstösst. Wenn, ja wenn er bereit ist und erkennt, dass ihm der dämliche Turm im Weg steht. Vielleicht hat er das schon. Denn für einen Sieg, hätte er den Turm anders platzieren, und mich direkt angreifen müssen. Stattdessen überlässt er die Sache mir. Ob er sich über das Risiko im Klaren ist? Ob er sich der Gefahr bewusst aussetzt hat? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es gibt Siege und Siege. Mag sein, dass er mich mit meinen eigenen Waffen schlagen will. Dumm nur, dass das nicht funktionieren wird. Nicht bei mir. Diesmal nicht.

Ich lächele. „Schachmatt durch die Dame im Spiel“, dabei hatte sie das Spielfeld schon längst verlassen. Wirkte nur von aussen. Lebte nur von der Hoffnung, und wartet nun am Ende der Reihe auf den liebenden Bauern, der sie wieder auferstehen lassen soll.

Beruhigt setze ich frischen Kaffee auf, zünde mir die letzte Zigarette aus der Schachtel an, und überlege mir meine Rede für nachher. Die Spielregeln haben sich verändert. Diesmal bestimme ich, und im Gegensatz zu seinen, sind meine Regeln nicht manipulativ.

Sie sind offen. Sie sind direkt. Sie sind ein Ultimatum.

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